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Freitagskommentar

Alarmsignal – Anzahl der Suizide aktuell gestiegen

Es ist in der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass die Suizide von Männern weltweit einer stillen Epidemie gleichen. Die aktuell gestiegenen Suizidzahlen in Deutschland von 2022 im Vergleich zum Vorjahr lassen es umso dringlicher erscheinen, das Thema „Suizid“ auch in einem Freitagskommentar zu beleuchten.

Seit 1981 ist die Suizidhäufigkeit in Deutschland (wie in anderen wohlhabenden Ländern) kontinuierlich um etwa 50% gesunken, doch in 2022 ist die Kurve im Vergleich zu 2021 um knapp 10% (904 Fälle) auf 10.119 Suizide angestiegen, vornehmlich in den Altersgruppen ab 60 Jahren.

Das relative Ausmaß der Suizide wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass immer noch mehr Menschen durch Suizid sterben als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, illegale Drogen und Aids zusammen.

Suizid ist vorrangig ein Problem der älteren und alten Männer
Dramatisch – und häufig übersehen – ist die Tatsache, dass trotz der rückläufigen Entwicklung der Suizidrate in den letzten 40 Jahren das Geschlechterverhältnis von 3M:1F sich nicht verändert hat. Es suizidieren sich nach wie vor 3-4mal so viele Männer als Frauen. Fast drei Viertel aller Suizidtoten sind Männer über 50 Jahre.

Grafik entnommen von der Webseite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/depression-in-verschiedenen-facetten/suizidalitaet)

Risikofaktoren für Suizid: bei Männern besonders schwerwiegend
Ein Suizid geht meist mit einem auslösenden Ereignis einher, dahinter stehen jedoch akute oder chronische Belastungen im Kontext komplexer Risikofaktoren: sozialstrukturelle, psycho/soziale, medizinische und biologische. Diese können interagieren und kumulieren, sodass ein Suizid immer multifaktorielle Ursachen hat.

Die zentralen Risikofaktoren für Männer, die zu psychischen Störungen und Suizidalität führen können, sind:

  • ein niedriger sozioökonomischer Status (Bildung, Einkommen, berufliche Position)
  • arbeitsbezogene Stressoren (z.B. chronische Belastungen am Arbeitsplatz, Arbeitslosigkeit, Berentung)
  • Partnerschaftsverlust und
  • soziale Isolation und Einsamkeit.

Ein Beispiel: je geringer die Bildung, desto schlechter die Erwerbsmöglichkeiten, desto höher der Substanzmissbrauch, desto geringer die Aussicht auf eine Partnerschaft, desto höher das Risiko für soziale Isolation und desto höher das Risiko für Depression und Suizid.

So ist die Suizidrate von Männern in Ostdeutschland doppelt so hoch wie die der westdeutschen Männer (etwa 89 pro 100.000). Besonders suizidgefährdet sind geschiedene, verwitwete und alleinstehende Männer.

Depressionen sind ein wesentlicher Risikofaktor für Suizid bei Männern
Das Suizidrisiko ist bei allen psychischen Störungen für Männer bedeutend höher als für Frauen, besonders hoch ist es bei Depressionen: 32mal höher als bei nicht-depressiven Männern. Bei mehr als 50% aller Suizidfälle geht eine Depression voraus.

Erschwerend kommt hinzu, dass Depressionen bei Männern häufig nicht erkannt und behandelt werden, sei es, dass Männer keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und/oder dass die klassischen Depressionssymptome durch eher männertypische Symptommuster (z.B. verstärkte Aggressivität, Hyperaktivität, Feindseligkeit, verstärkter Alkoholkonsum, zunehmender sozialer Rückzug) verdeckt sind und damit eine Diagnose schwieriger wird.

Eine der größten Barrieren, die die rechtzeitige Hilfesuche von Männern verhindert, ist die Angst vor Stigmatisierung und Entwertung, die Angst, vor anderen und sich selbst als schwach und unmännlich dazustehen. Diese Angst kann zusammen mit der subjektiven Überzeugung, aus einer immer unerträglicher werdenden Situation keinen Ausweg mehr zu finden, suizidale Gedanken massiv verstärken.

Akute suizidale Krise
Die akute suizidale Krise ist ein psychischer und neurobiologischer Ausnahmezustand mit Gefühlen der emotionalen Überflutung, Depersonalisation, des Kontrollverlustes und eines starken psychischen Schmerzes. Dabei ist die Alarmzentrale im Gehirn (Amygdala) überaktiviert und die Kontrollzentrale (präfrontaler Kortex) massiv heruntergefahren.

Ein Suizidversuch ist ein wichtiger Warnhinweis für einen späteren Suizid. Entscheidend ist: es erst gar nicht zu einer suizidalen Krise kommen zu lassen, indem Männer mit psychischen Krisen/ Depression den Mut aufbringen, frühzeitig professionelle Hilfe aufzusuchen. Genauso wichtig ist es, nach einem gescheiterten Suizidversuch in professioneller Begleitung zu bleiben. Denn: suizidgefährdete Männer wollen eigentlich nicht ihr Leben verlieren, sie wollen bloß nicht so weiterleben wie bisher.

Suizidprävention muss besser auf Männer zugeschnitten sein
Männer sind durch die bestehenden suizidpräventiven Hilfs- und Beratungsangebote offenbar schlechter zu erreichen als Frauen. Sie berichten in qualitativen Studien auch häufiger von schlechten Erfahrungen dahingehend, dass sie sich nicht ernstgenommen und verstanden gefühlt haben.

Da etliche innere und äußere Hürden überwunden werden müssen, können Online-Angebote eine erste gute Lösung sein, die Männer in (suizidalen) Krisen niederschwellig, schnell, anonym und selbstbestimmt annehmen können. Ganz neu ist die App „MEN-ACCESS – Suizidprävention für Männer“, entwickelt und evaluiert von den Universitäten Leipzig, Bielefeld und der Medical School Berlin zusammen mit Männern, die einen Suizidversuch begangen hatten (www.maenner-staerken.de).

Was macht die Politik?
Männergesundheit oder Suizidprävention stehen nicht auf der Prioritätenliste. Es gibt weder eine nationale Suizidpräventionsstrategie noch ein Suizidpräventionsgesetz. Das wurde zwar 2023 durch den Bundestag von der Bundesregierung gefordert, doch bisher leider vergeblich.

Die Bundesärztekammer hat dies scharf kritisiert: Der symbolisch nur leicht erhöhte Etat für allgemeine Präventionsmaßnahmen reiche bei weitem nicht aus, selbst die bestehenden Suizidpräventionsstrukturen zu erhalten. Dringend erforderlich ist aus Expertensicht ein zentrales 24/7- Hilfetelefon „Suizidprävention“ und der Ausbau niederschwelliger Beratungs- und Online-Hilfen, denn die bestehenden Stellen seien bereits jetzt überlaufen.
Die Forderung des Bundestags ist nun auf den 30. Juni 2024 vertagt worden.

Literatur:
Whitley R. Männerthemen und psychische Gesundheit von Männern. Springer 2023
Hofmann L, Glaesmer H, Wagner B, Spahn C. Männer in suizidalen Krisen. Psychotherapeutenjournal 2023; 3: 271-278
Deutsches Ärzteblatt 2024; 121(3): A150/B142


Stiftung Männergesundheit
Prof. Dr. Anne Maria Möller-Leimkühler

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